„Auf der Oberfläche der Erde (oder ganz knapp darunter) gibt es eine Unzahl von Gräbern, die die Reste von Individuen enthalten, von denen es ansonsten keine Erinnerung und keine andere Spur mehr gibt. Viele Gräber sind verständlicherweise völlig verschwunden und ihre Existenz verrät sich sozusagen nur noch der Vorstellungskraft: man nimmt sie vielleicht wahr mit der Luft, in einer etwas eigenartig geformten Furche im Boden oder im unregelmäßigen Profil eines Hügels. Es sind Tausende, Hunderttausende, Millionen von Menschen, von denen man sagen kann: Sie sind gekommen, sie waren da, sie sind gegangen – und jetzt ist es, als hätte es sie nie gegeben. (…)
Ich möchte von ihnen wissen, warum sie da waren, wenn es schon allem Anschein nach so ist als hätte es sie nie gegeben. Ich möchte wissen, ob tatsächlich jeder von ihnen mit einem anderen völlig gleichwertigenExemplar austauschbar wäre, wo schließlich keiner von ihnen einen Charakter aufwies, der ihn vor dem Vergessen bewahrt hätte. Ich möchte wissen, ob ihre Bedeutungslosigkeit für die Geschichte – und die Indifferenz der Geschichte ihnen gegenüber – Folge oder Ursache ihres niederen Standes sind, ihres Standes am Rande der großen Strömungen. (…)
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, sich zu fragen und zu erfahren, was im Zentrum der Welt liegt, in der wir leben, wer genau diese riesige Masse von Unseresgleichen ausmacht. Gibt es, wie es den Anschein hat, wirklich eine unendliche Vielzahl von Geschichten ohne Geschichte von austauschbaren und völlig gleichwertigen Wesen? Gibt es also im Zentrum unserer Zivilisation eine menschliche Welt, die wie ein riesiges Loch bar jeder Bedeutung und nur als statistische Größe erfassbar ist?”
Aus Alberto Asor Rosa: L’ultimo paradosso, Einaudi, Turin, 1985